Aus dem Herti-Schreibkästchen geplaudert

Für meine Zeit als Stadtschreiberin in Gotha habe ich mir einige Ziele gesetzt. Dazu gehört, endlich meinen Roman über Herti Kirchner zu schreiben. Noch immer empfinde ich die Briefe als Geschenk und trotzdem habe ich lange damit gekämpft, wie ich sie literarisch verarbeite. Ein bisschen stand mir dabei mein erster Roman „Brandbücher“ im Weg. Die Briefe bieten sich an als Verbindung von heutiger und historischer Zeit, aber das war mir zu dicht am Konzept von Brandbücher, auch wenn ich dafür Postkarten erfunden habe.

Und dann tauchte urplötzlich ein neues Problem auf. Ich fand es anmaßend, eine Biografie oder einen biografischen Roman zu schreiben. Ich weiß viel über Hertis Alltag und ihre Geschichte, aber nicht im Detail. Seit ich diese Blockade bekam, kann ich nicht mehr unbefangen biografische Romane oder Filmen rezipieren. Immer frage ich mich: „Woher wissen die das?“ Aber auch dafür habe ich eine Lösung gefunden.

Diese brachte die nächste Hürde mit sich. Ich möchte einen Roman schreiben, der die Leserinnen und Leser unterhält. In einem Buch, das in den 1930er-Jahren spielt, darf ich allerdings auch die schlechten Seiten nicht auslassen. Nun vollführe ich täglich den Spagat zwischen dem politischen Leben und dem Alltag, der in vielen Familien auch in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus weiterlief wie zuvor. Ich bin gespannt, wie mir das gelingen wird, zumal ich immer im Kopf haben muss, dass meine Protagonisten in ihrer Zeit leben und nicht wissen können, wie die Entwicklung weitergehen wird.

Aber genau die Folgen der NS-Politik sind es, die mich immer wieder aus dem Schreibfluss reißen. Immer wieder begegnen mir Namen, die Herti ehrfurchtsvoll oder mit dem Hinweis auf lobende Kritiken erwähnt. Doch die Namen dieser Menschen finde ich oft nicht im Internet. Jetzt gerade suche ich einen Komponisten, dessen Namen ich nicht entziffern kann, aber er muss 1933 bekannt gewesen sein,  denn Herti schreibt, dass der Bruder Platten von ihm hat und dass sie mit dem Komponisten aus war und in dem Lokal seine neuesten Schlager gespielt wurden. Ich habe alle Namenvarianten gesucht, im Web, bei der Gema und in meinen Büchern. Nichts, was mich traurig stimmt, weil es zeigt, welche Wirkung auf das kulturelle Leben die Nazis hatten. Auch dagegen möchte ich schreiben und dafür, aufzupassen, dass so etwas nicht wieder geschieht. Damals wie heute leben die Menschen – und da schließe ich mich ein – ihr kleines fröhliches Leben, während andere Menschen ausgegrenzt, verfolgt, benachteiligt, verletzt oder vertrieben werden. © Dr. Birgit Ebbert www.kaestner-im-netz.de

Nachtrag am 18. April 2024: Ich liebe das Internet, gestern Abend bekam ich eine E-Mail von einer Blogleserin, die mir anbot, mir bei der Recherche nach dem Komponisten zu helfen. Ich hatte tatsächlich vergessen, dass ich schon 2022 nach dem Namen gesucht hatte. Im Herbst 2022, als das Manuskript des Romans „Den Traum im Blick“ schon fertig war, hat sich das Rätsel mithilfe des Freundes einer Freundin bei Facebook endlich gelöst: Harry Ralton (1897-1953) war der gesuchte Musiker. Nachdem ich den Tipp hatte, habe ich noch mal alle „R“ von Herti Kirchner durchgesehen und sie waren oft so wie in dieser Schrift, der einzige konkrete Hinweis auf den Namen. Harry Ralton ist 1933 nach England emigriert und hatte vorher u. a. mit dem Regisseur Max Ophüls zusammengearbeitet. Manchmal ist das Internet wirklich genial.